Schach-WM 2024: Ein persönlicher Rückblick.

Posted by Mattias Birkner in Allgemein | Kommentare deaktiviert für Schach-WM 2024: Ein persönlicher Rückblick.

Jetzt ist es also doch so gekommen wie die meisten es erwartet haben: Gukesh Dommaraju ist mit 18 Jahren der jüngste Schach-Weltmeister der Geschichte (ein Alter, in dem manche vielleicht gerade mal Stadtmeister werden.). Aber es wurde kein „Blutbad“ und kein „Gemetzel“, wie von manchen angesichts Dings unterirdischer Leistung in 2024 und Gukeshs Höhenflug vorhergesagt wurde. „Zum Glück!“ möchte man ergänzen, weil man ja irgendwie beiden die Daumen gedrückt hatte: dem sympathischen Weltmeister Ding Liren, dass er sich nach seinen psychischen Problemen wieder fängt, und dem bescheidenen Gukesh, der hoffentlich für einen neue, junge Generation an Schachjüngern zum Vorbild werden kann.

Zwar begannen die Spiele in Singapur zu unserer Zeit bequem um 10 Uhr vormittags, trotzdem war das Zuschauen zumindest für mich mit zum Teil erheblichen Qualen verbunden:
da war zuerst die Frage, auf welchem Kanal man die Livekommentierung anschauen solle:

  • chess.com mit dem bewährten Teams aus GMs Leko, Polgar, Naroditsky, und einem unerträglichen e-Sports-Marktschreier namens John Sargent.
  • chess24de mit Bundestrainer GM Jan Gustafsson und IM Steve Berger, die für meinen Geschmack leider zu gerne abschweifen.
  • dem offiziellen FIDE-Kanal mit GM David Howell und Tanya Sachdev (das Wort „hysterisch“ habe ich aus meinem Wortschatz gestrichen und vermisse es dann und wann).
  • chessbaseindia, wo leider viele Kommentare im Gejohle der indischen Public Viewing Crowd untergingen, aber Stimmung topp!

Wofür auch immer man sich entschied, man blieb selten davor verschont, vom Kommentator mit – na gut – hysterischem Geschrei aus dem 11-Uhr-Loch-Nickerchen gerissen zu werden: „Blunder, blunder! How could he?“ („Riesenfehler, Riesenfehler! Wie konnte er nur?“). Grund dafür war meiner Meinung nach der allgegenwärtige große Bruder namens „Engine-Balken“, der auf jede Ungenauigkeit mit hektischem Hin-und-Her-Schwanken reagierte und dabei den Adrenalinspiegel jenes Kommentators synchron schwanken ließ.
Mit Wehmut dachte ich dann zurück an die eigene Schachjugend in Zeiten der Duelle der großen K (Kasparov und Karpov), als es noch kein Internet gab und man die Partien aus dem Videotext „downloaden“ musste, oder bis zum Wochenende wartete, bis „Schachonkel Helmut Pfleger“ die Partien im Mitternachtsprogramm des WDR präsentierte. Bis zur Veröffentlichung kommentierter Partien in Buchform musste man mitunter ein Vierteljahr warten, dafür waren sie dann sorgfältig von Hand analysiert und verständlich erklärt.

Diesmal gab es – kaum dass die Partie vorbei war – unzählige „Recap-Videos“, die eilig mit Computervarianten zusammengeschustert waren und selten auf harte Urteile verzichteten. Besonders von Interesse natürlich die Recaps von Magnus Carlsen, dem GOAT (‚greatest of all time‘), dem Ulrich Stock in der ZEIT zusammen mit Kasparov und Kramnik „egozentrierte Aggressivität“ bescheinigt („wir waren die Größten, und sind es irgendwie immer noch“).

Besonder beschämend fand ich es dann, wenn in der Presse von „Anfängerfehlern“ die Rede war, womit sich der Autor regelmäßig als fachfremd entlarvte. Sind nicht Fehler das Salz in der Schachsuppe? Werden zu wenig Fehler gemacht, und die Partien enden Remis, ist wieder alles „todlangweilig“. Dass jemand im Kampf Mann gegen Mann unter größtem Druck, in Zeitnot zusammenbricht, ist doch das Drama, das wir alle erhoffen. Die WM-Geschichte ist voller solcher legendärer Dramen: Fischer vs. Spassky (Ping-Pong-Raum und tote Fliegen in der Lampe), Karpov vs. Kortchnoi (Joghurt-Affäre, KGB-Schläger und Parapsychologen), Kasparov vs. Karpov (innige Abneigung und Verrat), Kramnik vs. Topalov (Toiletgate).
Wer also von „Anfängerfehlern“ beim WM-Match schreibt, hat also mutmaßlich noch nie in der fünften Stunde – beobachtet von 7 Augenpaaren der Mannschaftskameraden – am Brett gesessen („wenn ich das Remis nicht halte, ist der Mannschaftskampf verloren“) und hat – kaum hat er den entscheidenden Fehler gemacht – unverzüglich innerlich „Scheiße“ gerufen…

Aus Interesse und aktuellem Anlass habe ich mal die alte Lichess-Untersuchung zur Qualität historischer WM-Matches fortgeführt. Konkret geht es dabei darum, für jeden Zug einer WM-Partie die Abweichung vom besten Computerzug (Stockfish14, depth ca. 20, ELo ca. 3000) in Centi-Bauern (engl. Centipawn CP) zu berechnen, um so die Qualität einer Partie als „durchschnittlicher CP-Verlust“ ACPL zu berechnen. Aktuellen Schätzungen zufolge liegt der ACPL eines Super-Großmeisters in einer guten Partie bei etwa 10-20. Für die WM-Matches wurde als Metrik der „combined ACPL“ (cACPL) verwendet, was einfach die Summe des ACPL beider Spieler der Partie ist.

Die Qualität von WM-Matches wird kontinuierlich besser. Die Farbe der Boxen zeigt an, wer aus dem Kampf als WM hervorging. die Breite der Box zeigt den cACPL-Bereich, in dem die mittleren 50% der Partien liegen. Die „Antennen“ der Boxen geben den gesamten Datenbereich an (bis auf „outlier“ = schwarze Punkte). die Linie in der Box markiert den Median. Die WM 2024 gehört nach der von 2016 zu den genauesten überhaupt.

Etwas überraschend für manch einen ist vielleicht, dass die jetzige WM mit einem cACPL von 18,0 nach der von 2016 (17,5) die zweitbeste war. In Punkto ACPL für Weiß und Schwarz war das jetzige Duell sogar unerreicht, wie die folgende Tabelle zeigt:

Die nackten Zahlen mögen vielleicht nicht jeden überzeugen, der gern Engine-assistiert am Bildschirm sitzt, oder der vielleicht wirklich nie „Anfängerfehler“ macht, und beim nächsten Fußball-Länderspiel wieder erbost rufen kann:“Den hätte ja meine Oma reingemacht!“.

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